Welche Bedeutung haben die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit?

 

Alle Zellen in unserem Organismus haben das gleiche Genom, kodiert in Form von Desoxyribonukleinsäure (DNS). Aber wir alle wissen, dass die Zellen eines Organismus keineswegs gleich sind: eine Nervenzelle zum Beispiel unterscheidet sich sehr von einer Blut- oder einer Muskelzelle. Die Unterschiede verdanken wir der Fähigkeit eines jeden Zelltyps, jeweils ein eigenes genetisches Programm zu aktivieren, das heißt ganz bestimmte Gene in verschiedenen Phasen der Embryonalentwicklung und des Erwachsenendaseins an- oder abzuschalten. Forscher beschreiben dieses Phänomen mit einem bestimmten Fachausdruck: sie sagen, dass jede Zelle verschiedene Gene exprimiert. Diese Forschungsarbeit hat erstmals das Expressions-Profil der Gene von Chromosom 21 identifiziert, das heißt, einen Katalog aller Gene von Chromosom 21 erstellt, die in verschiedenen Geweben und einigen Stadien der Embryonalentwicklung an oder ausgeschaltet sind. Das Ergebnis ist das Äquivalent zu einem anatomischen Atlas und bietet die Möglichkeit zu verstehen, wo (= in welchem Gewebe) und wann (= in welchem Stadium der Entwicklung) die Gene von Chromosom 21 exprimiert werden.

 

Wozu brauchen wir einen Atlas der Genexpression?

 

Das Wissen, dass ein Gen in einem bestimmten Entwicklungsstadium, einem spezifischen Gewebe oder Organ “an” ist oder exprimiert, kann ein Hinweis darauf sein, dass dieses Gen eine wichtige Rolle in der Regulation des Entwicklungsprozesses oder in der Funktion des Gewebes beziehungsweise des Organs spielt. Das gleiche gilt für pathologische Prozesse: Wenn ein Gen in einer krankhaften Zelle anders exprimiert wird als in einer gesunden, könnte es in den Krankheitsprozess verwickelt sein.

Diese Studie liefert bedeutende Informationen darüber, welche Gene von Chromosom 21 für die fehlerfreie Entwicklung verschiedener Organe wichtig sein könnten.

 

 

Warum wurde Chromosom 21 untersucht?

Der Mensch besitzt 23 Chromosomenpaare, die im allgemeinen vom größten zum kleinsten durchnummeriert werden. So ist Chromosom 21 eines der kleinsten Chromosomen – es umfasst etwa 200 Gene -, aber sein Studium hat enorme Bedeutung für die Forschung zum Down-Syndrom und zu einer beträchtlichen Anzahl von anderen genetischen Krankheiten. Tatsächlich besitzen Menschen, die vom Down-Syndrom betroffen sind, eine zusätzliche, dritte Kopie von Chromosom 21 (anstatt der zwei Kopien, die wir normalerweise haben). Von den rund 200 auf Chromosom 21 liegenden Genen sind mindestens 30 in genetische Krankheiten involviert, wie beispielsweise Myopathie, Anämie, Blutplättchen-Defekte, Sklerose, Herzrhythmus-Störungen, eine Form der Epilepsie, mindestens zwei Arten von Taubheit und zwei von grauem Star. Außerdem ist das APP-Gen auf Chromosom 21 lokalisiert, und das gehört zu den Genen, die bei der Alzheimer’schen Krankheit eine Rolle spielen.

 

Was ist der Unterschied zwischen dem Expressions-Atlas und der Karte des menschlichen Genoms, die im vergangenen Jahr publiziert wurde?

Die Genomkarte ist die Sequenz aller DNS-“Buchstaben”, die das Genom bilden. In dieser Karte können die Forscher finden, welche und wie viele Gene ein Chromosom enthält, und welche Proteine produziert werden. Doch die Genomkarte gibt keinerlei Informationen darüber, welche dieser Gene in bestimmten Geweben, in verschiedenen Entwicklungsstadien oder in krankhaften Zellen an- oder abgeschaltet werden. Diese Art von Information erhält man über Expressions-Karten: dank dieser Karten wissen wir, welche Gene für die Bildung bestimmter Gewebe oder Organe wichtig sind. Darüber hinaus helfen uns diese Karten bei der Identifikation der Gene, die im kranken Gewebe anders exprimiert werden als im gesunden. Während die Genomkarten die DNS analysieren, analysieren die Expressionsstudien die Ribonukleinsäure (RNS), ein der DNS ähnliches Molekül, das nur von aktiven Genen produziert wird. Jedes aktive Gen stellt seine eigene RNS her: Kann man eine bestimmte RNS nachweisen, so heißt das, dass das zugehörige Gen “an” (= exprimiert”) ist. Außerdem gibt die Menge an RNS Aufschluss über den Grad der Expression des entsprechenden Gens.

 

Ist es möglich, ein praktisches Beispiel für diese Experimente zu geben?

Die folgenden Bilder, der Veröffentlichung in Nature entnommen, zeigen einige Beispiele aus dem Expressions-Atlas.

 

Abb. 1. Das dunkelviolette Objekt in der Bildmitte (verwendet wurde ein Mikroskop mit geringer Vergrößerung) ist ein Nagetierherz während der Embryonalentwicklung, in dem ein Gen von Chromosom 21, das so genannte Sh3bgr, “markiert” worden ist. Das dunkelviolette Signal zeigt, dass das Gen im Herzen stark exprimiert wird, während es in den benachbarten Geweben “aus”-geschaltet ist. Aus diesem Experiment schließen wir, dass das fragliche Gen eine Rolle in der Herzentwicklung spielen könnte.

 

Abb. 2. Das Bild zeigt das gleiche Herz (die dunklere Masse nimmt fast das ganze Bild ein) stärker vergrößert. Auf diese Weise kann man beobachten, dass das Gen sowohl in den Herzkammern als auch in den Vorhöfen, nicht aber in der Aorta exprimiert wird.

 

 

Was ist das Down-Syndrom?

Das Down-Syndrom ist die häufigste genetische Ursache für geistige Behinderung, 1 von 700 Kindern ist betroffen. Es ist auch bekannt unter dem Begriff Trisomie 21, denn es wird verursacht durch eine dritte Kopie des Chromosoms 21, das sonst in 2 Kopien vorliegt. Die Symptome vom Down-Syndrom sind komplex und treffen verschiedene Organe: die häufigsten Merkmale sind geistige Zurückgebliebenheit, kleine Statur, kurze Gliedmaßen, schräger Augenschnitt durch Lidfalte, vorstehende Zunge, Herzdefekte (bei 40 % der Patienten), eine höhere Rate an Leukämie und Defekte im Immunsystem. Derzeit gibt es keine Möglichkeit, dem Syndrom vorzubeugen oder es zu heilen. Die heutigen Behandlungsmöglichkeiten, so wichtig sie sind, können nur die schwersten Symptome überwachen und korrigieren, wie zum Beispiel Herzprobleme. Eine  Rehabilitation hingegen zielt darauf ab, eine harmonische Entwicklung und eine gute schulische, soziale und berufliche Integration zu erreichen.

 

Welche Bedeutung hat diese Studie für die Forschungen zum Down-Syndrom und zu anderen genetischen Erkrankungen, die mit Chromosom 21 verbunden sind?

Das Down-Syndrom wird verursacht durch eine zusätzliche Kopie von Chromosom 21. Mit anderen Worten, die Betroffenen haben eine überschüssige Kopie aller Gene dieses Chromosoms. Bisher weiß niemand genau, welche und wie viele dieser Gene wichtig sind, um die Symptome und Zeichen dieses Syndroms auszulösen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass diese Gene für eines oder mehrere Symptome der Krankheit oder gar für die geistige Behinderung verantwortlich sind.

Der Expressions-Atlas ist ein wichtiges Werkzeug, um die Expression dieser Gene mit den verschiedenen Symptomen des Down-Syndroms in Verbindung zu bringen. Er gibt uns einen Einblick, welche und wie viele Gene ursächlich für die Krankheit verantwortlich sind.

Ein Beispiel: Die Studie hat gezeigt, dass einige Gene von Chromosom 21 in bestimmten Herzregionen während der Embryonalentwicklung “an” sind: Also könnten diese Gene eine Rolle spielen bei Herzdefekten, unter denen Patienten des Down-Syndroms leiden. In gleicher Weise könnten einige Gene, die in den embryonalen Vorläuferzellen der Gliedmaßen “an” sind, verantwortlich sein für syndromtypische Anomalien in Händen und Füßen. Schließlich gibt es eine Gruppe von Genen auf Chromosom 21, die im Gehirn exprimiert werden, ein Hinweis auf ihre mögliche Rolle bei der geistigen Behinderung.

Wie bereits gesagt befinden sich auf Chromosom 21 mindestens 30 Gene, die in anderen genetischen Krankheiten als dem Down-Syndrom eine Rolle spielen. Der Expressions-Atlas wird eine präzisere Vorstellung von der Rolle dieser Gene liefern, welche zum großen Teil noch unbekannt ist.

 

Lässt sich aus der Studie eine praktische Anwendung für die Behandlung oder Diagnose des Down-Syndroms oder anderer Krankheiten ableiten?

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Studie Grundlagenforschung darstellt, für die keine unmittelbare Anwendung in Diagnose und Behandlung des Down-Syndroms oder anderer Krankheiten vorausgesehen wurde. Die Studie, die im hoch angesehenen Wissenschaftsjournal Nature (http://www.nature.com/nature) veröffentlicht wurde, wird sicher beitragen zum Verständnis, welche Gene von Chromosom 21 eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der verschiedenen charakteristischen Symptome des Down-Syndroms spielen. Die Identifikation dieser Gene ist nicht gleichbedeutend damit, dass sofort eine Therapie für die Krankheit gefunden ist, leider, und eine klare Lösung ist immer noch weit entfernt. Dennoch, die Studie ist ein bedeutender Fortschritt für die Erforschung des Down-Syndroms und anderer an das Chromosom 21 gebundener Krankheiten. Viele Jahre tappten wir im Dunkeln; heute, dank der Ergebnisse aus dem Genomprojekt und dem Expressionsatlas, haben die Forscher einen Führer zur Hand, um die genetische Grundlage des Down-Syndroms und der anderen an Chromosom 21 gebundenen Krankheiten besser zu verstehen.